06.
Feb
2017

7
min

Sklavenhalter

"Sklavenhalter" ist eine Kurzgeschichte von Alexander Djatschenko, eines russischen Priesters und Schriftstellers.

Der Batjuschka las für den Mullah die Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium. Dem Mullah gefiel das alles sehr.

„Wieso bist du denn dann kein orthodoxer Christ?“, wunderte sich der Batjuschka.

„Nun, wenn ich, abgesehen von diesen Worten, auch noch dein Leben sehen könnte, das diesen Worten entspricht, dann würde ich auch orthodoxer Christ werden“, antwortete der Mullah.

Ihr wundert euch vielleicht, wie ich die Überschrift gemeint haben mag, scheint die Sklaverei doch ein Relikt der tiefsten Vergangenheit zu sein. Aber man sagt ja, dass die Zeit eine Spirale beschreibt, alles wiederholt sich auf die eine oder andere Art; und nun, bitte sehr, da sind wir wieder. Hattet ihr schon einmal die Gelegenheit, einen Menschen zu kaufen, als wäre er ein Ding? Ich habe das durchgemacht. Vor ein paar Jahren habe ich einen Menschen gegen Bargeld gekauft. Ich teile meine Erfahrung nun mit euch, für ein künftig herauszugebendes Lehrbuch vielleicht. Heute erinnere ich mich an dieses Ereignis wie an ein Kuriosum, aber damals war mir gar nicht zum Lachen zumute.

Ich denke, dass keine der Kirchen in der Provinz, ja nicht einmal die Kirchen in der Hauptstadt, seinerzeit ohne die schwieligen Hände unserer Brüder, der Moslems aus Zentralasien, ausgekommen sind. Als bei uns in Russland ein Bauboom einsetzte, stellte sich nämlich heraus, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken eine Menge an Fachleuten gerade für unsere Baustellen ausgebildet hatten. Der Zustrom der Asiaten wurde zu einer Lawine, billige Arbeitskräfte waren bei uns sehr gefragt.

Ein paar Sommer lang haben Usbeken auch am Bau unserer Kirche gearbeitet. Damals haben sie uns sehr geholfen. Mit einem von ihnen, dem Brigadier der Bauleute, der Faisullah hieß, haben wir uns sogar angefreundet. Faisullah war ein sehr gebildeter Mann, mit Hochschulabschluss – er hatte seinerzeit in Moskau studiert. Man konnte ihn ganz sicher als Intellektuellen bezeichnen, und seiner inneren Einstellung nach war er ein überaus rechtschaffener Mann. Er hatte fünf Kinder; vieren davon hatte er bereits eine Hochschulausbildung ermöglicht, die Töchter hatte er verheiratet, und den Jüngsten – ganz klar, seinen Liebling – bereitete er auf ein Studium an der Medresse vor. Er hielt regelmäßig das Fasten, stellte viele Fragen zum christlichen Glauben und erzählte uns von seinem Glauben.

Die anderen Bauleute waren typisches Jungvolk, ganz genau solches, wie es die unseren auch sind: lachlustig und dusselig. Nur wenige von ihnen sprachen Russisch. Darin bestand auch eine der Schwierigkeiten – irgendwelche Absprachen mussten immer über den Brigadier erfolgen, und überhaupt wurden sie nur mit ihm zusammen erst angeheuert. Die einen arbeiteten sehr fleißig, andere trödelten, aber das war nicht mehr mein Problem. Den Lohn verteilte nämlich der Brigadier unter ihnen, und es herrschte in der Brigade eine Disziplin wie bei den Amerikanern in Guantanamo. Der Brigadier strafte gnadenlos, ganz ungeachtet dessen, dass diese Jugendlichen größtenteils seine Verwandten waren. Wir haben die ganze Zeit über – zu unserer Zufriedenheit – niemals auch nur einen Tropfen Alkohol noch sonstige Verstöße wahrgenommen. Abends ab zehn Uhr war Nachtruhe, um sechs Uhr früh wurde geweckt. Faisullah sagte: „Wenn keine Disziplin herrscht, dann kann ich diese Jugend im Verlauf der Bausaison nicht im Zaum halten, dabei muss ich sie noch ihren Eltern zurückbringen, und zwar heil und unversehrt.“

Es versteht sich von selbst, dass es bei einer solch eisernen Disziplin immer Unzufriedene gibt. Im zweiten Jahr machten einige der freiheitsliebenden Neffen des Brigadiers ihr eigenes Ding: Sie fuhren selbständig nach Moskau, ohne die Sprache zu kennen, ohne Geld in der Tasche und ohne Gedanken im Kopf. Wie es den anderen erging, das weiß ich nicht, aber einen von ihnen hat sich unsere Miliz an einem der Moskauer Bahnhöfe gekrallt.

Sicher ist die Polizei unser Freund und Helfer, aber diese Milizionäre waren, wie man zu sagen pflegt, »Werwölfe in Uniform«. Aus gewinnsüchtigen Beweggründen verkauften diese »Werwölfe« den Jungen, der zum ersten Mal in seinem Leben nach Moskau gekommen war, an die Taxifahrer, welche am Bahnhof herumlungerten und die nichts anderes praktizierten als Sklavenhandel. Wenn man nun einmal in die Fänge dieser Leute geraten war, dann konnte sich das Schicksal ziemlich scharf wenden. Das sind dann nämlich schon richtige Banditen. Bei diesen sucht man vergeblich nach Mitgefühl.

Überhaupt erinnert mich diese ganze Geschichte an einen Film über kleine Schildkröten, die irgendwo auf einer Insel im Stillen Ozean aus ihren Eiern schlüpfen. Wenn sie sich aus dem warmen Sand herauswühlen – und das tun sie in ungeheuer großer Anzahl – müssen sie bestimmt an die hundert Meter zurücklegen, ehe sie ins Wasser des Meeres eintauchen können. Die Raubtiere haben sich dann immer schon versammelt und warten geduldig auf diesen Augenblick. Da gibt es Möwen, Warane, Krabben, und im Meer selbst auch noch die Raubfische. Von tausend kleinen Schildkröten kommen vielleicht hundert an ihrem Ziel an.

Ganz ähnlich kamen diese Arbeitsleute auch zu uns, und an den Bahnhöfen wurden sie schon erwartet – da waren die Werwölfe in Uniform, die Taxifahrer-Banditen, dazu noch die »Basmatschi« von den eigenen Landsleuten. Der weise Faisullah heuerte sich immer Milizionäre als Begleitschutz an, sein dummer Neffe nun aber wurde zu einer dieser Schildkröten, die schließlich gefressen werden sollte.

„Wer kann für dich zahlen?“, fragten sie ihn, er aber konnte nur fragend die Augen auf und zu klappen.

Das Schicksal derer, die nicht freigekauft wurden, war meist traurig. Wahrscheinlich gibt es das heutzutage nicht mehr, aber damals war es ein Leichtes, dabei zugrunde zu gehen. Glücklicherweise hatte dieses Jungchen – ich kann gar nicht sagen, auf welche Weise – meine Mobilfunknummer parat.

Was weiter folgte, glich einer Komödie. Ich wurde angerufen und gefragt, ob ich denn einen gewissen – den Namen könnte ich nicht wiederholen, selbst, wenn ich versuchte, ihn auswendig zu lernen – kenne. Ich dachte, man erlaubt sich einen Scherz mit mir, aber dann erklang der Name Faisullahs. Ich begriff, dass jemand von seinen Verwandten in Gefangenschaft geraten war. Ich fragte nach dem Betrag, der mir daraufhin genannt wurde, wir feilschten ein wenig hin und her und schließlich sagte ich, dass sie vorbeikommen sollen.

Die ganze Zeit über, während ich auf diese Gäste wartete, malte ich mir aus, wie ein hünenhafter Kerl mit Stiernacken vor mich tritt, an dessen Stiernacken unbedingt ein, mein, orthodoxes Kreuz an einer entsprechend dicken Goldkette hängt. Ganz klar, für ihn ist das Kreuz nichts weiter als ein Schmuckstück, für mich aber bedeutet es das ganze Leben. Ich stellte mir vor, wie dieser Bandit mit seinem Kreuz am Hals mir, einem orthodoxen Popen, einen Moslemjungen verkauft, und mich überkam eine bedrückende Scham. Was sollte ich denn diesem Usbeken dann sagen? Mit welchen »wirtschaftlichen Schwierigkeiten« sollte ich erklären, dass wir so verroht sind wie wilde Tiere?

Diese Frage war für mich von einer solchen Schwere, dass ich merkte, wie sich geradezu ein Nervenfieber meiner bemächtigte. »Vielleicht sieht er, dass ich ein Priester bin, und schämt sich?«, dachte ich bei mir über den Banditen. »Solche Fälle gibt es doch bestimmt? Er muss doch auch so etwas wie ein Gewissen haben?« - In solcherlei Gedanken verbrachte ich die Zeit.

Endlich kam ein schwarzes Auto mit Taxischild auf dem Dach herangefahren, und aus dem Fahrzeug stiegen der Junge und ein riesiger Schlägertyp, der zwar nicht ganz so groß gewachsen war, aber genau einen solchen Stiernacken hatte, wie ich ihn mir vorstellte. Ich ging ihnen entgegen und sah, dass dem Hünen an einer enorm dicken Goldkette – was denkt ihr? ein Kreuz? Nein!! – ein Halbmond um den Hals hing. Er war also selbst Moslem, obwohl sich natürlich der, welcher ein rechter Moslem ist, keinen Halbmond an den Hals hängt; doch woher sollte dieser Bandit das wissen?

Wie ich mich freute! Vor mir stand ein Moslem, ein Tatare, der mir einen Moslem, einen usbekischen Jungen, verkaufte. Die Anspannung wich augenblicklich von mir, und ich war sogar bereit, den Banditen zu umarmen, so sympathisch war er mir plötzlich geworden.

Der Taxifahrer sah mich mit Verwunderung an.

Erstens hatte er natürlich nicht erwartet, auf einen orthodoxen Priester zu treffen, und zweitens konnte er nicht verstehen, weshalb ich mich so freute.

„Was freust du dich?“, fragte er mich.

„Ich freue mich darüber, dass du ein Moslem bist und kein orthodoxer Christ.“

Sein Verstand war, ganz im Unterschied zu seinem Hals, fein und scharfsinnig. Ich brauchte ihm nichts weiter zu erklären. Ich blickte in die kleinen, schwarzen Augen des Banditen und sah Hass darin aufflackern.

„Hätte ich gewusst, dass du ein Pope bist“, sagte er im Eifer, „dann wäre ich niemals zu dir gekommen.“

Er empfing das Geld, verlor aber dafür alles. Ich frohlockte – soll er sich nun mit meiner Frage quälen, falls freilich sein mächtiger Hals nicht aus Gewohnheit jeden Selbstzweifel abprallen lässt.

Ich feilschte mit ihm auch nicht mehr um den Preis, sondern nahm den Jungen und dessen Dokumente in Empfang. Die Stunden der nervösen Erwartung waren in wenigen Augenblicken auf bestmögliche Weise zu Ende gegangen. In meiner Seele sang es geradezu: »Da, ihr Moslems, haben wir’s euch gezeigt, nicht wahr? Weil wir erhabener, ethischer, rechtschaffener sind als ihr!«

Doch dann erinnerte ich mich an Faisullah und spürte, wie mein Gewissen mich anklagte; denn auch Faisullah war ja Moslem. Ich stellte mir vor: Wäre einer meiner Verwandten oder Freunde in Not geraten, irgendwo dort, im fernen Süden, würde Faisullah ihm etwa seine Hilfe verwehren, sollten die Umstände sich so ergeben?

Ach, sein letztes Hemd würde er hergeben, um zu helfen!

Es ist nämlich alles viel einfacher: Wenn du ein Bandit bist, oder ein Werwolf, oder sonst irgendein Raubtier, dann ist es ganz gleich, welches religiöse Symbol dir um den Hals hängt - es wird dich nur anklagen.

Jemand, der vor Gottes Angesicht wandelt – ob’s ein Christ ist oder ein Moslem – wird seine helfende Hand immer demjenigen reichen, der ihrer in diesem Augenblick bedarf, und sich nicht auf die Ebene der religiösen oder nationalen Unterschiede herabbegeben.

Der Glaube lehrt doch, dass man selbst ein Mensch ist und bleibt, und in seinem Nächsten vor allen Dingen zuerst den Menschen wahrnimmt. Es ist ja für einen wahrhaft Gläubigen genauso natürlich, Gutes zu tun, wie Brot zu essen oder Luft zu atmen.

Und dabei bedarf es auch gar keiner Dankbarkeit!



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