05.
Nov
2016

9
min

Theologie für Eisenbahner

"Theologie für Eisenbahner" ist eine Kurzgeschichte von Alexander Djatschenko, eines russischen Priesters und Schriftstellers.

Am Gedenktag der heiligen Märtyrerinnen Fides, Spes, Caritas und ihrer Mutter Sophia¹ zelebrierten wir die Liturgie. Schon viele Jahre versuche ich vergeblich, eine Definition für den Zustand zu finden, in dem ich mich während dieser so besonderen Handlung befinde. Einmal, es war noch, bevor ich Priester wurde, fragte ich einen bekannten Priester: „Sag, wie kann es sein, dass es dich nicht langweilt, einen jeden Tag ein und denselben Gottesdienst zu zelebrieren? Der Gottesdienst ist doch immer gleich!“ Darauf antwortete er mir: „Du irrst dich, er ist ein jedes Mal anders.“

Und das ist tatsächlich so: keine Liturgie ist wie die andere; das begriff ich aber erst später, als ich selbst vor dem Altar stand. Aber wie ist sie dann? Viele geben sich Mühe, das zu beschreiben, was sie dabei durchleben; jeder, wie er es eben vermag. Mitunter liest man geradezu poetische Werke dazu - ja, ganz recht, unter den Priestern gibt es ziemlich viele Poeten. Man liest es und freut sich, denn man entdeckt dabei bisweilen Feinheiten, auf die man bis dahin selbst nicht geachtet hatte, oder die man wohl bemerkte, nur nicht in Worte fassen konnte. Ach, wäre ich doch nur Poet!, aber ein Poet bin ich nicht.

Wäre ich Künstler, so bemühte ich mich, meine Frage mit dem Pinsel zu beantworten, durch Farbstriche, die ich mit meinen Händen auf die Leinwand bringe. Interessant hierbei: was wären das für Farben? Sicher Hellblau, und unbedingt Rot, Gold und Schwarz. Unsere Hoffnungen, die wie Flügel zum Himmel streben, und unsere Sünden, die uns scheinbar unüberwindbar an die Erde fesseln, wären auf diesem Bild erkennbar. Aber, je nun, ich bin kein Künstler.

Es gibt ja noch die besondere Sprache der Theologen. Man staunt über diese hohe Kunst. Sicher sind die besten Theologen jene, die von den Naturwissenschaften her zur Kirche finden. Ihre Sprache ist ausgefeilt, die Definitionen haarscharf mit mathematischer Strenge und Klarheit gegeben, unterteilt in Punkte und Unterpunkte. Das Ideale wird am Ideal gemessen. Alles hat seinen Platz, als handele es sich nicht um Gedanken zu einem geistlichen Thema, sondern um eine Beweisführung zu einem weiteren wissenschaftlichen Theorem. Mithilfe solcher Werke kann man sich gut auf Prüfungen vorbereiten, dafür aber schwindet die Präsenz des Geheimnisvollen, dessen, was immer unausgesprochen bleibt.

Man kann es leicht am Stil erkennen: dieser oder jener Theologe war früher einmal Musiker oder Schauspieler. Ihre Theologie ist eine Hymne an Gott, für die Studenten aber reine Quälerei. Versuche doch einmal, den rationalen Kern in einer Hymne voller Andeutungen zu finden, ganz besonders dann, wenn dir am kommenden Tag eine Prüfung bevorsteht.

In meinem Diplom von der St.-Tichon-Universität steht zwar »Theologe«, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich tatsächlich einer bin. Und da denke ich bei mir: Wenn du weder Poet, noch Künstler, und noch nicht einmal ein Theologe bist, in welcher Sprache solltest du dann deine Empfindung der Liturgie wiedergeben, womit willst du sie vergleichen?

Ich habe viele verschiedene Varianten durchprobiert und bin letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass - wenn ich überhaupt dazu in der Lage bin, mich zu einer solch hohen Materie zu äußern - dann doch nur in Entsprechung mit meiner Vergangenheit als Eisenbahnarbeiter. Zehn Jahre lang verbrachte ich mit einer ewig dreckigen, orangefabenen Warnweste, bei Tag und Nacht, bei Regen und Schnee, in Hitze und Frost und mit einer schweren, zwei Meter langen Gabel zur Entkopplung von sich bewegenden Waggons beschwert - solche Umstände sind imstande, einen jeden zum Philosophen zu machen. Ich träume heute noch davon, wie ich wieder und wieder Waggons entkoppele. Der Zug bewegt sich zu schnell, ich komme nicht hinterher, renne und stürze. Ich liege auf der Erde und sehe, wie die riesigen, zu einem stählernen Fluss verschwommenen Eisenbahnräder an mir vorüber rauschen.

Als ich noch bei der Eisenbahn gearbeitet habe, bin ich kein einziges Mal gestürzt, obwohl ich mich all die zehn Jahre lang davor fürchtete. Ich habe eben gesehen, was mitunter aus einem Menschen wird, wenn er bei dieser Tätigkeit unglücklich stürzt, und ich bin doch sehr empfindlich für solche Eindrücke.

Ich kann mich daran erinnern, dass jemand einmal vorschlug, wir sollten ein paar Gruppenfotos am Arbeitsplatz machen; aber ich lehnte das ab. Aus irgendeinem Grunde war mir der Gedanke daran unangenehm, dass andere mich in meiner Wattejacke und der orangefarbenen Weste sehen könnten, im Kreise meiner Kollegen, die ganz genauso gekleidet waren wie ich.

Meine Matuschka gab einmal urplötzlich zu, dass sie vor jeder Liturgie aufgeregt ist - und das ungeachtet ihrer zwanzigjährigen Erfahrung im Gehorsam des Kirchenchors. Für mich war das wie eine Offenbarung: „Du bist aufgeregt? Bei deiner Erfahrung?“ - „Ja, stell dir vor, ich kann das nicht erklären; aber jede Liturgie ist für mich wie die erste.“

Wahrscheinlich ist es auch so, denke ich bei mir. Am frühen Morgen, so ungefähr anderthalb Stunden vor dem Beginn des Stundengebets, eile ich zur Kirche. Die Proskomidie mache ich ohne Hast, und wenn ich die Teilchen aus den Prosphoren herausnehme, spreche ich die Namen der Menschen, derer dabei gedacht wird, hörbar aus. Es ist niemand in der Kirche, abgesehen von zwei oder drei Großmütterchen, die es genauso lieben, in der Stille zu beten. Sie fungieren außerdem noch als mein Wachschutz. Nachdem es bei uns eine Welle an Überfällen auf Priester gegeben hat, hat unsere Gemeindeälteste angeordnet, den Batjuschka niemals allein in der Kirche zu lassen. Und so lassen sie mich auch nicht allein, Gott vergelt's ihnen.

Ich versuche, mit dem Gedenken an die Lebenden und die Toten fertig zu sein, bevor die Leute in die Kirche kommen. Mit ihnen kommt nämlich das Raunen von Stimmen, das Scharren von Füßen und das Rascheln von Tüten. All das erinnert an den Lärm auf einen Bahnhof. Es ist, als seien die Menschen vor dem Eintreffen des Schnellzugs noch einmal ins Bahnhofsgebäude gekommen, um sich zu wärmen und sich zu unterhalten. Der Schnellzug kommt bald, aber noch ist etwas Zeit; du weißt, zu welcher Zeit er zu erwarten ist, allein halten die Schnellzüge in unseren Gegenden nicht. Sie sind Boten aus einer fernen, frohen Welt, von der uns nur zu träumen übrig bleibt. Dort, in jener Welt, ist es wunderbar, aber nicht jeder wird dahin mitgenommen. Man schaut jede Minute auf die Uhr, um rechtzeitig auf den Bahnsteig hinauszugehen. Schwerlich wird der Zug hier halten - Schnellzüge halten nicht an solchen Haltepunkten wie dem unseren. Aber vielleicht haben wir ja diesmal doch Glück? Denn dieser Zug ist ja die einzige Möglichkeit, dahin zu gelangen, wo alle glücklich sind, wo es kein Übel gibt, keine Gewalt, keine Krankheiten und kein Leid.

Während das Gebet zur dritten Stunde erfolgt, nehme ich den Kindern, den Alten und Kranken die Beichte ab, also jenen, die am Vorabend nicht in der Kirche sein konnten. Da beginnt auch schon das Gebet zur sechsten Stunde, ich gehe mit dem Weihrauch durch die Kirche. Gleich ist es soweit, der Schnellzug kommt. Gleich werden wir das bekannte, durchdringende Zugsignal hören, und die Ampel wird grün schalten.

Und da ist es schließlich, das feierliche „Gesegnet das Reich des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ Der Zug erscheint aus der nächsten sichtbaren Kurve, und schon steht man auf dem Bahnsteig, an dem die Waggons mit hoher Geschwindigkeit vorüber rauschen. Die Fenster der Waggons blinken im Vorüberfahren, man sieht die Silhouetten von Menschen darin und erkennt bisweilen sogar ihre Gesichter. Sie schauen dich ganz genauso an und winken grüßend mit den Händen.

Die Liturgie nimmt ihren Lauf, die Waggons fliegen mit einem ohrenbetäubenden Getöse vorüber. Man wünscht sich, dass der Zug hält, man möchte einsteigen und in der Gesellschaft dieser glücklichen Menschen mitfahren, doch der Zug wird nicht langsamer.

Nun kommt die Zeit der Kommunion, dann kommen alle zum Segenskreuz. Die Königspforte wird geschlossen. Und wieder ist die Kirche fast leer, einzig die wenigen, welche die Kerzenständer putzen oder kehren, sind noch fast unhörbar zugegen. Stille. Der Zug ist vorüber geeilt und verschwunden, ich bin am Bahnsteig stehen geblieben. Ich bringe den Altarraum in Ordnung, bedecke den Rüst- und den Altartisch. In der Seele herrscht Friede, eine stille Freude über die empfangene Kommunion der hl. Gaben, und ein Bedauern darüber, dass die Liturgie zu Ende gegangen ist. Ich bin nicht mitgenommen worden. Das ist traurig, obwohl ich verstehe: will ich, dass der Zug hält und ich in die Freude derer eingehe, die sich darin befinden, muss ich ein ganz anderer sein, als ich jetzt bin.


Wir zelebrieren am Tag des Gedächtnisses an die Märtyrerinnen des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Ihr Martyrium kennt fast nicht seinesgleichen. Drei Schwestern, drei noch ganz junge Mädchen, die sich zu Martern bereit erklärten, ihrem Glauben aber nicht abschworen. Es stellte sich heraus, dass für sie ein Leben ohne Christus eine größere Tragödie darstellt als der körperliche Tod. Sophia ist ihre Mutter. Die Henker rührten sie nicht an, doch als sie die Kinder vor den Augen der Mutter umbrachten, rissen sie ihr geradezu die Seele aus dem Leib. Die drei Tage, die sie am Grabe ihrer Kinder verbrachte, wurden zur Krönung ihres gemeinsamen Martyriums. Es ist nicht von ungefähr, dass Sophia der Kirche lange Zeit als Großmärtyrerin galt.

Die Namen dieser Heiligen werden in unseren Kirchenkalendern in ganz dünner Schrift geführt, ohne ein besonderes Symbol, denn ihr Gottesdienst hat nicht den Status eines besonderen Feiertags. Ebenso treten die Gottesdienste zum Gedächtnis an die größten Märtyrer, Gerechten und Heiligen des Altertums irgendwie nicht aus der Masse hervor. Als damals aber der eine oder andere von ihnen unter bestimmten Umständen einmal aus seiner Einsiedelei in die Städte ging, da erklang der Ruf schnell im gesamten Umkreis, und schon kamen Tausende herbeigeströmt, um wenigstens einen Blick auf die wundersamen Asketen zu erhaschen. In unseren Zeiten wurde zum Beispiel der heilige Johannes von Kronstadt so verehrt, aber sein Name findet sich in den Kirchenkalendern auch in Fettdruck. Warum macht man einen solchen Unterschied? Weshalb sind die Gottesdienste zu Ehren der Heiligen, die in unseren Zeiten verherrlicht wurden, so viel feierlicher gehalten als die zu Ehren der Heiligen des Altertums?

Wahrscheinlich war Heiligkeit in jenen frühen Tagen der Kirche eher eine Norm. Man liest in der »Tugendliebe« und ahnt, dass der geistlichen Vervollkommnung keine Grenzen gesetzt sind. Damals verkehrten auch keine Schnellzüge, das war gar nicht notwendig. Es reichten ganz einfache Pferdewagen. Sie mussten aller paar Minuten halten. Unsere Zeit ist die Zeit des Erlöschens der Heiligkeit, deshalb hat sie, wie es aussieht, wohl auch einen solchen Wert. Und es ist durchaus nicht die Hand des Herrn, die jetzt etwa weniger errettet – wir sind es, die wir uns verändert haben. Wir haben plötzlich etwas zu verlieren, und die verlockende, irdische Welt ist, mag sie auch noch so unvollkommen sein, ein doch recht schwergewichtiger Spatz in der Hand. Was soll man da von den Tauben auf den Dächern träumen, vielleicht gibt es sie ja gar nicht? Und anstelle der Vielzahl an Pferdewagen gibt es jetzt diesen einen Schnellzug, der durch Raum und Zeit eilt. Wie sollte er auch nicht eilen: ansonsten wäre es schier unmöglich, die unvorstellbaren Entfernungen in der Welt abzufahren, von einem Haltepunkt an einem ihrer Enden, an dem eine einsame Figur ihn erwartet, bis zum anderen Ende der Welt mit einem ebensolchen Haltepunkt und wartendem Passagier.

Aber es gibt sie eben doch noch, diese Passagiere, für die der Schnellzug hält, denn wäre das nicht so, hätte das Leben auf der Erde jeglichen Sinn verloren. Ich habe immer gestaunt, wenn ich das klitzekleine, uralte Kirchlein des heiligen Simeon des Styliten auf dem Neuen Arbat in Moskau betrachtete: wie konnte dieses Kirchlein bestehen? Doch es blieb eben bestehen, und so hat diese Straße ein Gesicht und eine Geschichte. Fehlte es, dann geriete alles im Umkreis zu einer bloßen Anhäufung an gleichen, grauen und gigantischen Streichholzschachteln von Wohnblöcken. Dieses Kirchlein aber scheint die ganze es umgebende Welt vom Abgleiten in ein schwarzes Loch zu bewahren, und es ist wunderbar, wie warm es einem bei seinem Anblick ums Herz wird.

Kirche des hl. Simeon des Styliten in Moskau

Sicher, hätte ich das Glück gehabt, in meiner Jugendzeit an der Geistlichen Akademie zu studieren, so bestünden meine Erörterungen aus perfekt gewichteten theologischen Sentenzen, doch: oje. Mein Fernstudium, multipliziert mit den Jahren schwerer Arbeit, gestatten es mir leider nicht, mich über das Niveau einer Eisenbahn-»Theologie« zu erheben. Es ist nun schon zu spät, etwas daran zu ändern, aber darin sehe ich auch gar keinen Sinn; sollen die Jungen es wagen, sie haben dazu alle Karten in der Hand. Eines bedauere ich allerdings, und das kann ich auch nicht wieder gutmachen: dass ich mich kein einziges Mal mit meinen Jungs in den verdreckten orangenen Warnwesten habe ablichten lassen, mit denen, die ganz genau solche Arbeiter waren wie ich.

(gekürzt)


¹ im russ. Vera, Nadeschda, Ljubow, Sofija (Вера, Надежда, Любовь, София)



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