22.
Aug
2015

6
min

Raketentruppen

Die Kurzgeschichte "Raketentruppen" ist eine Leseprobe aus dem ersten Band der Kurzgeschichten von Jaroslaw Schipow.

Bei uns siedelte sich eine Truppe Erdgasarbeiter an – es wurde eine große Pipeline verlegt. Die Erdgasarbeiter nun sind ein ausschweifendes und ungestümes Völkchen – ganz und gar nicht wie die Bauern, und aus diesem Grunde kam es anfangs auch zu einer Reihe von Mißverständnissen. Sagen wir, einer der Erdgasarbeiter wollte sich entspannen; setzt er sich also an die Schalthebel seines Bulldozers oder Sattelzugs und rollt einfach, wohin er will. Und es will nicht in seinen Hitzkopf, aus welchem Grunde die Bauern hier so viele Zäune und Schuppen hingebaut, dazu noch Unmengen an Heuhaufen aufgetürmt haben: er fährt also quer durch, demoliert die Zäune und schleift die Heuschober… Der gemeine Bauer nun hat natürlich kein Verständnis für diese Art Romantik, enthält sich aber in der Regel einer allzu offenen Rache: nicht einmal die Pipeline haben sie ihnen angebohrt. Aber bei den Erdgasleuten kam es dann immer urplötzlich zu Schwierigkeiten: mal mit der Kraftfahrzeugbehörde, mal mit der Flächenzuweisung für ihre Wohnwagen, oder mit dem Stromanschluss, der Trinkwasserversorgung…

Schließlich gelangten die Fremdlinge zu der Überzeugung, dass gutnachbarliche Beziehungen doch wichtig waren, und saßen still in ihrem Reservat an der kleinen Straße. Einige Zeit äußerte sich ihr Übermut noch, indem sie mit Dynamit auf Fischfang gingen, aber bald war der Fluß leergefischt, und es trat ein seliger Frieden ein.

Zu dieser Zeit begann einer dieser Rebellen, mich desöfteren zu besuchen. Sein Abenteuergeist war verzweifelt auf der Suche nach Nahrung – allerlei Unternehmungen mit relativ unklarem Ausgang – mir aber kam die Rolle eines Friedensstifters zu. Mit dieser Aufgabe bin ich nicht nur nicht zurechtgekommen, sondern fiel selbst in eine heftige Versuchung. Natürlich bekommt man nicht alle Tage eine Rakete angeboten – eine ganz echte, fünfzehn Meter lang, und mit einer solchen Versuchung muss man erst einmal fertig werden können…

Die Sache ereignete sich folgendermaßen: eines Tages kommt also dieser Mann zu mir gefahren und berichtet, dass er gerade mit dem Hubschrauber unterwegs war, um einen Abschnitt der Pipeline zu reparieren – er ist nämlich Schweißer – und dass er auf dem Rückflug eine Rakete auf der Erde liegen sah. Der Pilot habe angeblich bestimmen können, dass es sich dabei um eine meteorologische Rakete handele, die es allem Anschein nach nicht auf die ihr bestimmte Höhe gebracht hatte. Nördlich von uns gibt es einen Ort, von wo man allenthalben solche Raketen ins All schickt, und es kam schon vor, dass die Leute allerlei “Aluminiumblechdinger” in den Wäldern fanden, aber eine vollständige Rakete – davon hatte ich noch nie gehört.

Er beschrieb die Gegend des Funds, schätzte grob die Entfernung, und ich zeigte ihm einen Punkt auf der Karte: es handelte sich um gerodete Waldstücke an der Grenze zweier Oblaste. Gerodet wurde der Wald dort schon vor ungefähr dreißig Jahren, und inzwischen waren diese Parzellen mit dichtem Buschwerk zugewachsen – alles in allem ein nutz- und fruchtloser Ort. Aber irgendwann einmal bin ich dort schon durch die Gegend gestolpert…

“Das wäre doch was”, sagte er, “diese Rakete herzubringen!”

“Wozu?” fragte ich.

“Vielleicht sind ihre Treibstoffreserven noch nicht erschöpft, da könnte man sie noch einmal starten.”

“Und wohin soll sie da fliegen?”

Darauf antwortete er nicht mehr. Er war ganz in seinem Vorhaben gefangen:

“Sie funktioniert ja ganz wie ein Schweißgerät: Treibstoff, Oxydant, ein Gasstrahl… Wenn in der Rakete nur irgendeine Rohrleitung verstopft ist, dann blase ich die mit dem Kompressor von unserem Auto frei. Aber wenn’s irgendwas mit den Kabeln ist, dann brauchen wir einen Fachmann: bestimmt gibt es da haufenweise Kabel…”

“Nimm doch unseren Elektriker mit”, sagte ich.

Da freute er sich und fragte gleich, wo man den denn finden könne.

“Der hockt auf irgendeinem Mast.”

Eine halbe Stunde später kam er mit dem Elektriker wieder.

An diesem Tag kümmerte ich mich gerade um meinen Haushalt: ich heizte die Sauna, wusch Wäsche und hing diese zum Trocknen auf. Die beiden aber setzten sich hinter dem Haus in eine stille Ecke, breiteten eine Karte auf dem Tisch aus und gingen daran, Pläne zu schmieden. Ich eilte mal hier-, mal dorthin über den Hof, und hörte im Vorübergehen: es gibt Probleme mit dem Start der Rakete.

“Bindet sie doch an einen Baum”, sagte ich; “Und drunter macht ihr ein Feuer – fertig!”

“Dann schon besser an einen Mast”, widersprach der Elektriker. “Er ist glatt, da stören die Äste nicht.”

“Am Richtigsten wäre es, sie in ein Rohr zu stecken,”, schloss der Gasarbeiter, “und sie wie aus einem Raketenschacht zu starten…”

Ich gelangte langsam zu der Überzeugung, dass sie durchaus keine Scherze machten.

Als ich das nächste Mal am “Generalstab” vorüberging, war bereits die Rede vom “Gefechtskopf”: man müsse die Rakete mit Sprengstoff vollstopfen und einen Detonator installieren…

“Männer”, fragte ich. “Ziehen wir gegen irgendwen in den Krieg?”

“Eigentlich nicht”, antworteten sie. “Das ist nur für alle Fälle.”

“Ihr müsst es natürlich selbst wissen, aber es scheint, als wäre eine Rakete nicht genug für eine ordentliche Schlacht.”

“Wir suchen noch welche!” – Die Jungs waren wirklich hartnäckig. “Wenn wir noch eine finden, schenken wir sie Ihnen!”

“Womit habe ich denn eine solche Heimsuchung verdient?”

“Man kann sie längs auseinandersägen – da bekommt man zwei Boote.”

“Ein Boot habe ich doch schon.”

“Na, dann eben eine Tonne für Duschwasser.”

“Habe ich auch – ein altes Benzinfass.”

“Oder man nimmt sie einfach als Wasserbehälter – um Regenwasser zum Gießen zu sammeln, für die Kartoffeln und die Beete…”

“Ja, toll”, sagte ich. “Frösche züchten! Eine wahrlich feine Sache.”

Mich beruhigte immerhin, dass sie dazu bereit waren, ihre Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden.

Einige Tage später hatten wir den ersten Schnee, und die Korsaren kamen mit einem großen Laster gefahren.

“Wir müssen uns beeilen, solange es nicht noch mehr Schnee gibt und die Rakete vollkommen davon verschüttet wird.”

Ich wartete bis Mittag – Kasualien gab es keine, und so machten wir uns auf den Weg. An diesem Tag sind wir ewig durch die Gegend gefahren: über Asphalt, Stoppelfelder, Feld- und alte Bohlenwege, sogar über ein verworfenes Schmalspurgleis… wir überwanden Bäche, Flüsschen und Sümpfe… und fanden schließlich den gesuchten Ort.

“Da ist es”, sagte der Erdgasmann.

Eine Rakete war nicht da.

Wir wühlten im Schnee herum, der Elektriker hob ein paar bunte Drähte auf, und wir begriffen, dass bereits jemand vor uns hier gewesen sein musste. Seltsam war aber, dass wir keinerlei Spuren von Fahrzeugen gesehen hatten.

“Das waren Militärs, mit einem Hubschrauber”, befand der Erdgasmann.

So krochen wir also den Weg zurück, den wir gekommen waren. An einer Stelle, am Ufer eines Baches, bemerkte ich Spuren von Stiefelchen einer recht geringen Größe.

“Weiber”, erklärte der Elektriker. “Die haben hier nach Moosbeeren gesucht.”

“Woher sollte es hier Moosbeeren geben?” fragte ich. “Hier gibt es ja nicht einmal Sumpf.”

“Die Weiber, das ist ein eigenartiges Volk, die finden Moosbeeren, wo sie wollen.”

“Und woher sollten hier Weiber kommen?” zweifelte der Erdgasarbeiter. “Wir haben an die sechzig Kilometer zurückgelegt – keine einzige menschliche Siedlung…”

“Das war ja rundherum mit dem Auto” – der Elektriker beharrte auf seiner Version. “Zu Fuß sind es von hier bis zum nächsten Dorf nur vielleicht zwölf Kilometer….”

“Soll das heißen, dass die hiesigen Weiber so weit gehen, um Moosbeeren zu holen?”

“Na, wenn es näher keine gibt? Weiber, die gehen sonstwohin nach Moosbeeren, das weiss man doch.”

Später, am Abend, auf dem Rückweg über die benachbarte Oblast, sahen wir auf dem Seitenstreifen einen Lkw stehen, und neben ihm den Fahrer, einen ganz jungen Kerl, der uns zuwinkte. Wir hielten: das Auto sei kaputt, und er bat uns, ihn bis zur Station abzuschleppen. Wir schleppten. Seine Dankbarkeit kannte keine Grenzen.

“Ihr habt mich gerettet”, sprach er. “Am Morgen geht der Waggon mit dem Schrott weg, ich muss es noch schaffen, meinen abzuliefern und wenigstens ein bißchen Kleingeld dafür für die Schule zu bekommen.”

Wir erfuhren, dass dieser Knabe der Direktor einer Dorfschule ist, und dazu noch ihr Hausmeister und Chauffeur, und in seinem Wagen hatte er eine Ladung Buntmetallschrott: Aluminium…

“Es ist eine Rakete”, sagte er. “Sie lag drei Jahre lang bei uns auf dem Rodungsstück. Die Männer haben sie inzwischen schon mit Schrot durchlöchert und mit Äxten darauf eingehackt. Und da taucht in der Zeitung diese Anzeige auf: es wird Schrott aufgekauft. Warum sollte das gute Zeug verkommen, dachte ich mir? Ich habe die Schüler zusammengetrommelt: gemeinsam haben wir das Ding zerlegt und jeder nahm ein Stück davon mit…”

“Und du redest von ‘Weibern’ und ‘Moosbeeren’!” hänselte der Erdgasmann den Elektriker.

“Was denn?” sperrte sich dieser. “Die Weiber, das ist ein eigenartiges Volk, die finden Moosbeeren, wo sie wollen.”

“Das ist natürlich schade, Jungs”, sagte ich; “aber die Feier am neunzehnten November, dem Tag der Artillerie- und Raketentruppen, werden wir wohl nicht feiern können.”

“Das macht nichts, wir denken uns etwas anderes aus”, versprach der Erdgasmann.

Daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel.



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